02.10.2013: Flächenbrand in Russland und Osteuropa - Brief an MP Kretschmann

Staatsministerium Baden-Württemberg
Herrn Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann
Richard-Wagner-Straße 15
70184 Stuttgart

Freiburg, den 02. Oktober 2013

FLÄCHENBRAND IN RUSSLAND UND OSTEUROPA
Menschenverachtende Gesetze gegen LSBTTIQ dürfen nicht unwidersprochen bleiben!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,

das russische Parlament (Staatsduma) hat am 11. Juni 2013 ein föderales Gesetz gegen „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ beschlossen. Durch das Gesetz drohen russischen Personen bei Weitergabe von Informationen, öffentlicher Demonstration und positiver Darstellung der Vielfalt von sexueller Orientierung und Geschlecht empfindliche Geldstrafen von bis zu 1 Mio. Rubel (23.000 Euro). Ausländer müssen mit Strafen bis zu 100.000 Rubel (2.300 Euro) oder bis zu 15 Tagen Haft beziehungsweise der Ausweisung aus der Russischen Föderation rechnen.

Auf der Grundlage dieses Gesetzes geht die russische Polizei systematisch gegen Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, Transgender-Personen, Intersexuelle sowie queere Menschen (LSBTTIQ) und insbesondere gegen politisch aktive Nichtregierungsorganisationen vor.

Die gerade im größten Flächenland des europäischen Kontinents zu Ende gegangene Leichtathletik-Weltmeisterschaft wurde zum symbolischen Schmelztiegel. Das viel beachtete Sportereignis zeigte öffentlich die böse Fratze der Verbannung von LSBTTIQ-Symbolen, wie der Regenbogenflagge und deren bunter Farbenpracht. Mit großem Bangen blickt nicht nur die LSBTTIQ-Gemeinschaft nun in Richtung der Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi im Frühjahr 2014.

Russland ist aber nur die Speerspitze einer neuen Welle der Homo- sowie Transphobie und das promi-nenteste Beispiel für einen regelrechten Flächenbrand der Ausgrenzung von LSBTTIQ-Menschen in Osteuropa. In Moldawien wurde erst im Juli ein ähnliches "Anti-Homo-Propaganda"-Gesetz verab-schiedet. Weitere Staaten bereiten entsprechende Verordnungen vor – beispielsweise die Ukraine, Litauen oder Kasachstan.

Durch diese Gesetze werden eine objektive Berichterstattung und eine vorurteilsfreie Aufklärung über die Vielfalt von sexueller Orientierung und Geschlecht praktisch unmöglich gemacht. Ein offenes, ak-zeptiertes Leben als LSBTTIQ kann sich so nicht entwickeln. Rechtsradikale Gruppen in Osteuropa erhalten durch diese menschenrechtsverletzenden Gesetze massiven Auftrieb und schüren den Hass gegenüber Personen des LSBTTIQ-Spektrums in der gesamten Bevölkerung. Schon jetzt, kurz nach der Einführung der Gesetze, kam es mehrfach zu gewalttätigen Übergriffen – auch seitens der Polizei. Ohnmächtig müssen wir aus der Ferne mit ansehen, wie derzeit immer neue Schmähvideos in sozialen Netzwerken verbreitet werden, in denen LSBTTIQ auf widerwärtige Art und Weise gedemütigt und/oder verprügelt werden. Fast täglich erreichen uns neue, erschreckende Erfahrungsberichte von engagierten Aktivist*innen.

Es ist ein Hass, der sich in Osteuropa auszubereiten scheint und nicht an russischen, moldawischen oder ukrainischen Landesgrenzen Halt macht. Dieser bestätigt und befördert auch die, die bei uns in Deutschland und auch in Baden-Württemberg die weitere Gleichstellung von LSBTTIQ ablehnen. Es befördert all jene, die jegliches Anders-Sein aus der öffentlichen Sichtbarkeit verdrängen wollen.

Mit diesem Schreiben wollen wir Ihren Blick – und damit auch den der baden-württembergischen Lan-desregierung – auf die schwierige Situation unserer Brüder und Schwestern im gesamten osteuropäi-schen Raum schärfen. Gleichzeitig warnen wir vor diesem Flächenbrand, der auch Auswirkungen auf unser Land und auf die Demokratie in Osteuropa haben kann. Dies wollen wir verbinden mit der wichti-gen Forderung, bei allen möglichen Gelegenheiten auf bilateraler Ebene sowie im europäischen Kontext die Menschenrechtsverletzungen und die bedrohliche Situation für LSBTTIQ deutlich anzusprechen.

Wir fordern Sie auf, Ihr gesamtes europapolitisches Gewicht bei Treffen, Gesprächen und Kontakten aktiv in die Waagschale zu werfen, um zu verhindern, dass Menschen aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden. Finden Sie klare Worte gegen diesen Verfall von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Verurteilen Sie diese Diskriminierung deutlich und am Besten öffentlich! Wir bitten Sie darüber hinaus, umgehend zu verfügen, dass osteuropäischen LSBTTIQ-Aktivist*innen in Baden-Württemberg unbürokratisch politisches Asyl gewährt wird, wenn diese in ihrer Heimat auf der Grundlage der neuen Gesetze verfolgt werden.

In der Hoffnung auf Ihre tatkräftige Unterstützung verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen

Der Sprechendenrat
Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg
- Monika Barz, Mathias Falk, Angela Jäger, Christoph Michl -
in Vertretung von über 60 LSBTTIQ-Organisationen im Land

 

Brief an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als PDF Dokument.